Text / Diakonie Schweiz

Zivilgesellschaft in Europa unter Druck
Nur 4 Prozent aller Menschen geniessen uneingeschränkte Meinungsfreiheit. Auch in europäischen Ländern wie Österreich und Italien hat sich die Lage verschlechtert. Zu diesen Ergebnissen kommt der aktuelle Atlas der Zivilgesellschaft. Die Lage ist ernst und die Einschränkungen Zeichen einer Krise der Demokratie, mahnt Brot für die Welt.

Weltweit leben zwei Milliarden Menschen in Ländern, die bürgerliches Engagement durch staatliche Gewalt unterbinden. Gerade einmal vier Prozent der Menschen geniessen uneingeschränkte Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und können ihre Anliegen frei äussern, an Demonstrationen teilnehmen oder eine Bürgerinitiative gründen. Demgegenüber leben 27% der Weltbevölkerung in Staaten mit geschlossenen Gesellschaften.

Die Daten des dazu von Brot für die Welt vorgestellten „Atlas der Zivilgesellschaft“ basieren auf Erhebungen von CIVICUS, einem weltweiten Netzwerk für Bürgerbeteiligung. Der Atlas kategorisiert die Freiheitsgrade einer Gesellschaft in fünf Kategorien: offen, beeinträchtigt, beschränkt, unterdrückt und geschlossen. Die Daten belegen, dass aktuell in nur knapp jedem vierten Staat (45 Staaten) der Handlungsraum der Zivilgesellschaft „offen“ ist. In 40 Staaten ist der Handlungsraum „beeinträchtigt“. Hierzu zählen auch 12 Staaten der Europäischen Union, unter ihnen Österreich und Italien. 53 Staaten beschränken den Handlungsraum der Zivilgesellschaft, unter ihnen Ungarn. Unterdrückt wird die Zivilgesellschaft in 35 Ländern, darunter Äthiopien, Russland und Simbabwe. In 23 Staaten, zwei mehr als 2018, ist der Raum für zivilgesellschaftliche Akteure „geschlossen“, etwa in Aserbaidschan, China oder Ägypten.

Das System einer auf Regeln basierenden internationalen Ordnung erodiert, so der Befund. Staaten ziehen sich aus dem Menschenrechtsrat der UN, aus der UNESCO oder dem Klimaschutzabkommen zurück. Internationalen Organisationen wird die Finanzierung verweigert. Das hat unmittelbare Folgen für die Zivilgesellschaft, so die Autoren: „Um die Einhaltung von Grund- und Menschenrechten durchzusetzen, ist sie nämlich auf internationale Organisationen angewiesen.“

Vollkommen enthemmter Autoritatismus

Das Miteinander von Nationalismus und Autoritatismus ist der politische Gegenpol zu Menschenrechten, stellt der Atlas fest. Sündenböcke für verfehlte politische Entscheide, Missachtung von Minderheiten, Grundrechten und Institutionen für die eigene Herrschaft: das „ist die Agenda der rechten Populisten“. Wie schnell zivilisatorische Mindeststandards zerfallen könnten, zeigten die Nachrichten aus Brasilien nach der Wahl des Rechtspopulisten Bolsonaro zum Präsidenten. Das Land drohe „zum Vorreiter eines vollkommen enthemmten Autoritatismus zu werden“, mahnen die Autoren.

Eine aktive Bürgerschaft trage erheblich zum gesellschaftlichen Frieden bei, sagt Cornelia Füllkrug-Weitzel, Präsidentin von Brot für die Welt in Deutschland. Zudem bremsten Staaten ihre eigene soziale und wirtschaftliche Entwicklung aus, wenn sie die Grundrechte ihrer Bürger einschränkten.

Die Erosion der Demokratie beginnt durch Tabubrüche

Der Negativtrend kommt in Europa an. In zwölf der 28 Mitgliedsstaaten der EU ist der Handlungsraum der Zivilgesellschaft beeinträchtigt; für 54 Prozent ist er beeinträchtigt oder sogar beschränkt. Österreich und Italien sind Beispiele dafür. CIVICUS habe nach den Wahlsiegen der Lega in Italien und der FPÖ in Österreich und nach einer Überprüfung der ersten politischen Massnahmen der neuen Regierungen die Lage in beiden Ländern gegenüber 2018 herabgestuft und als beeinträchtigt gewertet. In Österreich sei die neue Regierung aus konservativer ÖVP und rechter FPÖ auf ungarischem Orbán-Kurs. So habe Vizekanzler Strache angekündigt, NGOs, die im Mittelmeer Seenotrettung betreiben, zu bestrafen.

Was in anderen EU-Staaten noch droht, sei in Ungarn schon zu beobachten. Strafbar macht sich dort, wer Informationsmaterial zum Asylrecht anfertigt, verbreitet oder in Auftrag gibt und wer diesbezüglich ein Netzwerk aufbaut oder betreibt.

Vor allem in Europa erhalte die extreme Rechte heute Einfluss auf die politische Agenda der Mitte, stellt der Atlas fest. Etablierte Parteien versuchten, Wählerinnen und Wähler durch Annäherung an die extreme Rechte zurückzugewinnen. Flankiert werde ihr Aufstieg durch sogenannte Alternativmedien.

Demokratie, so betonen die Autoren des Atlas, sei nicht erst dann in Gefahr, wenn autoritäre Regierungen die Macht übernehmen: „Die Erosion demokratischer Strukturen und der Verbindlichkeit der Menschenrechte beginnt durch Tabubrüche.“ Zum Beispiel, wenn Radikale die Deutungshoheit bei gesellschaftlichen Debatten im Umgang mit Minderheiten wie Geflüchteten gewännen.

„Der Druck auf die Zivilgesellschaft nimmt zu, und dieser weltweite Trend macht auch vor Europa nicht mehr halt“, so Füllkrug-Weitzel: „Die Lage ist ernst. Die Einschränkungen sind auch ein Zeichen einer Krise der Demokratie.“

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